Mitte 2019 ist das „Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch“ verabschiedet worden. Mit dem genannten Gesetz sind Änderungen und Verschärfungen für das Kindergeldrecht einhergegangen. So sind neu nach Deutschland zugezogene EU-Bürgerinnen und -Bürger in den ersten drei Monaten vom Leistungsbezug, also von der Kindergeld-Berechtigung, ausgeschlossen, sofern sie keine inländischen Einkünfte erzielen (§ 62 Abs. 1a EStG). Auch laufende Kindergeldzahlungen kann die Familienkasse in begründeten Zweifelsfällen vorläufig einstellen.
Aktuell hat das Finanzgericht Münster zum Kindergeldrecht entschieden, dass die dreimonatige Sperrfrist für zugezogene EU-Ausländer nach § 62 Abs. 1a EStG nicht gilt, wenn bereits vor Begründung des inländischen Wohnsitzes ein Kindergeldanspruch bestand (Urteil vom 10.12.2020, 8 K 2975/20 Kg).
Der Fall: Die Klägerin zog im Juli 2020 mit ihren beiden Kindern von Bulgarien nach Deutschland. Ihr Ehemann, der Vater der Kinder, lebte bereits seit Ende 2019 in Deutschland und ging hier einer Vollzeitbeschäftigung nach, während die Klägerin selbst nicht erwerbstätig war. Die Familienkasse lehnte den Kindergeldantrag der Klägerin für die ersten drei Monate (Juli bis September 2020) ab, weil diese keine laufenden inländischen Einkünfte erzielt habe.
Ab Oktober 2020 erhielt die Klägerin Kindergeld. Das FG Münster hingegen gewährte der Klägerin auch für die Monate Juli bis September 2020 Kindergeld.
Begründung: Die in § 62 Abs. 1a EStG vorgesehene dreimonatige Sperrfrist für nicht erwerbstätige EU-Ausländer ab Begründung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Inland greife im Streitfall nicht ein. Für die Begründung eines Wohnsitzes sei auch ein fiktiver Familienwohnsitz gemäß Art. 67 Satz 1 der EG-Verordnung Nr. 883/2004 ausreichend.
Die Klägerin habe einen solchen fiktiven Wohnsitz bereits vor ihrem Zuzug nach Deutschland gehabt, weil ihr Ehemann hier gewohnt und gearbeitet habe. Dieses Verständnis entspreche auch dem Zweck der Sperrfrist, das deutsche Sozialsystem vor einer unangemessenen Inanspruchnahme zu schützen und eine Anreizwirkung des Kindergeldes für den Zuzug nach Deutschland zu vermeiden.
Dieser Zweck könne nicht erfüllt werden, wenn bereits vor dem Zuzug ein inländischer Kindergeldanspruch bestanden habe. Der Anspruch der Klägerin sei auch nicht auf das Differenzkindergeld beschränkt, weil Deutschland wegen der Erwerbstätigkeit des Ehemannes vorrangig zuständig sei und daher kein bulgarischer Kindergeldanspruch bestehe. Die Richter haben die Revision zum Bundesfinanzhof wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Das FG Bremen hat bereits Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des dreimonatigen Kindergeldausschlusses angemeldet. Mit Vorlagebeschluss vom 20.8.2020 (2 K 99/20) hat es ein entsprechendes Verfahren ausgesetzt und den Europäischen Gerichtshof um Klärung im Kindergeldrecht gebeten.